Der "Rennbahn Express" war nicht einfach nur eine Zeitschrift – er war DAS Sprachrohr, das Lebensgefühl und der kulturelle Kompass einer ganzen Generation in Österreich, insbesondere in Wien. Um ihn zu verstehen, muss man ihn in den Medienkontext seiner Zeit einordnen.
Die Medienlandschaft der späten 70er und 80er Jahre
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Mainstream-Medien: Waren oft konservativ, etabliert und für die Jugend unnahbar. Zeitungen wie "Kronen Zeitung" oder "Kurier" und das ORF-Fernsehen sprachen eher die Elterngeneration an.
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Die Lücke: Es fehlte ein Medium, das die neue, laute, rebellische und selbstbewusste Jugendkultur, die sich im Austropop, Punk und New Wave ausdrückte, ernst nahm, verstand und für sie sprach.
Genau in diese Lücke fuhr der Rennbahn Express.
Der Rennbahn Express (RX) – Das "bunte Blattl"
Erscheinungszeitraum: 1981 – 1997 (in seiner prägenden Form)
Der Name: "Rennbahn" bezog sich auf die Trabrennbahn in Wien-Krieau, in deren Nähe die Redaktion anfangs sein sollte. "Express" stand für Geschwindigkeit und Modernität.
1. Was war der Rennbahn Express?
Der RX war ein underground-nahes, alternatives Stadtmagazin. Er war:
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Mix aus Magazin und Zeitung: Gedruckt auf billigem, Zeitungs-ähnlichem Papier, aber im Magazin-Format und mit einer unverwechselbaren, wilden Grafik.
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Themen: Eine bunte Mischung aus Musik (viel Austropop, Punk, Wave), Politik (sehr links, ökologisch, regierungskritisch), Stadtkultur, Szene-Tratsch, Comics, satirischen Beiträgen und gnadenlosen Kolumnen.
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Sprache: Der Tonfall war frech, respektlos, nah an der Jugendsprache, voller Wiener Schmäh und Sarkasmus. Er fühlte sich an, als würde ein kluger Freund einem die Welt erklären.
2. Die Macher & die Gründer
Die Seele des RX war Hans "Hansi" Lang (nicht zu verwechseln mit dem Sänger gleichen Namens). Lang war ein unermüdlicher Journalist, Herausgeber und Motor des Blattes. Um ihn sammelte sich eine Gruppe von jungen, talentierten und oft anarchistischen Autoren, darunter:
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Robert Rotifer: Später selbst Musiker (Rotifer) und Journalist.
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Gebrüder Makovec: Verantwortlich für den unverwechselbaren, chaotisch-genialen Grafikstil.
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Thomas Edlinger: Später Kulturjournalist und Radiomacher (Ö1).
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Sigi Maron: "Hausphilosoph" und scharfzüngiger Kolumnist.
Diese Truppe war nicht nur Berichterstatter, sondern aktiver Teil der Szene, die sie beschrieb.
3. Warum war der RX so prägend für die Jugendkultur?
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Sprachrohr und Identitätsstifter: Der RX gab einer Generation, die sich von den etablierten Medien nicht verstanden fühlte, eine Stimme. Man las den RX und wusste: "Ah, ich bin nicht allein. Da gibt's noch andere, die so denken wie ich."
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Entdecker und Förderer: Der RX berichtete nicht nur über die großen Austropop-Stars, sondern war eine cruciale Plattform für die zweite Welle und den Underground. Bands wie Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV), Drahdiwaberl, Attwenger oder Stermann & Grissemann wurden hier gefeiert, interviewt und kritisiert, lange bevor sie im Radio liefen.
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Politischer Arm: Der RX war unmissverständlich politisch. Er begleitite die Hainburg-Au-Bewegung (1984) und andere ökologische Proteste mit leidenschaftlicher Parteinahme. Für viele Jugendliche war er die erste politische Lektüre.
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Szene-Info-Zentrale: Bevor es das Internet gab, war der RX die ultimative Quelle für Konzerttermine, Club-Eröffnungen und Szene-Tratsch. Wer wissen wollte, was los ist, musste den RX kaufen.
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Das Design: Das Layout war absichtlich chaotisch, collagiert, handgemacht und voller inside jokes. Es sah aus wie die bewegte Szene selbst: laut, unangepasst und kreativ.
4. Das Ende und Vermächtnis
Der RX überlebte die 90er nicht. Die Gründe waren vielfältig:
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Veränderte Mediennutzung: Das Aufkommen des Internets begann, die Funktion von Szene-Magazinen zu übernehmen.
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Kommerzialisierung: Die alternative Szene wurde mainstream-tauglicher, der ursprüngliche Biss des RX verlor vielleicht an Wirkung.
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Finanzielle Schwierigkeiten: Ein Nischenmagazin ohne großen Anzeigenmarkt kämpft immer.
Trotzdem ist der Rennbahn Express heute legendär. Er gilt als Ikone der österreichischen Popkultur und ist ein time-capsule eines bestimmten Wiener Lebensgefühls der 80er Jahre.
Andere wichtige Medien der Jugendkultur dieser Zeit
Neben dem RX gab es noch andere wichtige Säulen:
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FM4 (ORF): Wurde zwar erst 1995 zum Vollprogramm, aber seine Wurzeln lagen im "Ö3 International" der 80er. Es war das Radio-Pendant zum RX – weltoffen, musikalisch vielfältig (viel Alternative, Elektro, World Music) und auf Englisch. Es sprach diejenigen an, die sich mehr für internationale als für heimische Musik interessierten.
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Ohne Maulkorb (ORF): Diese TV-Sendung (moderiert von Chris Lohner) war DAS Fenster zur Popkultur im Fernsehen. Hier traten alle nationalen und internationalen Stars auf. Für viele Österreicher war es die erste Gelegenheit, Bands wie die EAV oder Falco im TV zu sehen.
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Radio Österreich 1 (Ö1) - Musikredaktion: Erstaunlicherweise hatte auch der kultivierte Ö1 eine sehr progressive Musikredaktion, die in Sendungen wie "Matrix" oder "Musicbox" experimentelle und Jazz-beeinflusste Musik spielte, die auch die Avantgarde der Austropop-Szene beeinflusste.
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Regionalzeitungen und Stadtmagazine: In Graz gab es z.B. die "Stadtzeitung", die eine ähnliche, wenn auch weniger radikale Funktion wie der RX für die steirische Szene erfüllte.
Fazit
Der Rennbahn Express war ein Unikat. Er war mehr als eine Zeitschrift; er war ein kulturelles Phänomen, ein Gemeinschaftsgefühl und der Beweis, dass eine Gegenöffentlichkeit möglich ist. In einer Zeit ohne soziale Medien schuf er eine lebendige, laute und wütende Community, die die österreichische Kulturlandschaft nachhaltig geprägt hat.